„Brexit - What the fuck?“ - Fachgespräch zu Erasmus+ in Brüssel
„Die europäische Idee ist kein Selbstläufer“ – diese Erkenntnis gewinnt vor dem Hintergrund des Brexit-Referendums und des Erstarkens populistischer Parteien in ganz Europa eine besondere Bedeutung. Doch gerade hier kann das Erasmus+-Programm einen wichtigen Beitrag leisten. So entwickeln Jugendliche und Erwachsene durch die Teilnahme an einem Projekt verstärkt ein Interesse an anderen Ländern und den Lebenssituationen der Menschen dort. Sie erfahren Europa, bauen Vorurteile ab und leben die Europäische Idee. Das wurde im Rahmen eines Fachgespräches unter dem Titel „Europäischen Gemeinschaftssinn beleben, Bildung stärken, Erasmus+ vereinfachen“ deutlich.
Zu dem Fachgespräch hatten die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland (aej), die EKD sowie die Träger des katholischen Europabüros für Jugend- und Erwachsenenbildung (BDKJ, afi, KEB, askb, FEECA) am 6. Dezember 2016 in das Haus der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) nach Brüssel eingeladen. Im Rahmen der Veranstaltung tauschten sich Vertreter/-innen der der katholischen sowie evangelischen Jugendarbeit und der Erwachsenbildung mit Vertretern der EU Institutionen, der Nationalen Agentur Bildung für Europa beim Bundesinstitut für Berufsbildung sowie mit Experten aus der Wissenschaft über den Europäischen Gemeinschaftssinn aus. Mit mehr als 50 Teilnehmern war die Veranstaltung gut besucht.
Bezug nehmend auf die EU-Initiative des „Europäischen Solidaritätskorps“ und die Idee des „Free-Interrail-Tickets“ für junge Menschen merkte die Leiterin des EKD-Büros Katrin Hatzinger, in ihrer Begrüßung an, das Programm Erasmus+ sei ein ausgezeichnetes Instrument, um Vernetzungsmöglichkeiten anzubieten, um Engagement zu fördern und die europäische Idee von Integration und Solidarität zu verwirklichen. „Wir sehen jedoch mit Sorge, dass dieses Programm mit Ablehnungsquoten europaweit von über 7o Prozent im Jugendpogrammteil nun noch für andere Initiativen herangezogen werden soll ohne klare finanzielle Aufstockung“, so Katrin Hatzinger. In Hinblick auf die Stärkung des Europäischen Freiwilligendienstes, der nun seit über zwanzig Jahren besteht, warnte sie davor, überflüssige Doppelstrukturen zu schaffen.
Katharina Norpoth, Bundesvorsitzende des Bundes der Katholischen Jugend (BDKJ), berichtete von ihren eigenen Erfahrungen als Erasmus-Studentin in Italien. Sie appellierte an die Verantwortlichen in der kirchlichen Jugendarbeit und Erwachsenenbildung: „Das Programm ist ausgezeichnet, um Europa zu erfahren, Vorurteile abzubauen und so zu einer europaweiten Verständigung beizutragen“. Problematisch, so Katharina Norpoth, seien allerdings die Hürden in der Antragsstellung. Dies stelle gerade für ehrenamtliche Strukturen eine besondere Herausforderung dar.
Dr. Barbara Tham vom Centrum für angewandte Politikforschung an der LMU München stellte anschließend die Ergebnisse aus dem deutschen bzw. europäischen Forschungsverbund „Unter der Lupe“/ RAY dar, die seit 2009 die Wirkungen von Erasmus+ – JUGEND IN AKTION untersuchen. So geht aus der Untersuchung beispielsweise hervor, dass rund 85 % der Teilnehmenden der Aussage zustimmen, die Teilnahme an dem Projekt habe zu ihrer persönlichen Entwicklung beigetragen. Dies wirke sich unter anderem in den Feldern „Umgang mit kultureller Vielfalt“, „Toleranz“, „Solidarität“ und „Soziale Inklusion“. Nahezu 50 % gaben an: „Ich werde mich künftig gegen Diskriminierung, Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus einsetzen“.
Raffaela Kihrer, Referentin beim europäischen Verband für Erwachsenbildung (EAEA), veranschaulichte die Wirkung von Erasmus+, in dem sie ein konkretes Projektbeispiel aus der europäischen Erwachsenenbildung „Live and Learn“ vorstellte. Das Erasmus+ Programm schaffe europäische Netzwerke für die Zivilgesellschaft, so Raffaela Kihrer. Genau deshalb sei es auch wichtig, dass Erwachsenbildung europaweit gestärkt werde und dabei eben nicht nur die Beschäftigungsfähigkeit, sondern auch die politische Bildung an sich gefördert werde.
Unter der Leitung von Franziska Broich von der Katholischen Nachrichtenagentur Brüssel, diskutierten Expertinnen und Experten aus der kirchlichen Jugendarbeit und Erwachsenbildung anschließend die Chancen und Probleme des Programms Erasmus+ auf einem Panel.
Helga Trüpel, Mitglied des Europaparlaments und Vizepräsidentin im Ausschuss für Kultur, Bildung, Jugend und Sport („Bündnis 90 DIE GRÜNEN“), betonte die besondere Bedeutung von Auslandsaufenthalten für die Persönlichkeitsentwicklung. Ein Auslandsaufenthalt setze emotionale, aber auch kognitive Prozesse in Gang, die das Selbstwertgefühl verbessern könnten. Die Teilnehmenden solcher Programme empfänden den kulturellen Austausch als Bereicherung und nicht als Gefahr für ihre eigene kulturelle Identität. Durch die Erweiterung des Programms bestünde nun die Möglichkeit, auf vielfältigen Ebenen zu erleben, wie „Familie, Schule, Uni oder Arbeit in anderen Ländern anders tickt“. Sie sei überzeugt, dass die Zusammenführung zu dem integrierten Bildungs- und Jugendprogramm Erasmus+ der richtige Weg gewesen sei und viele Nutzer inzwischen vertrauter mit der neuen Struktur arbeiteten. Die noch zu lösenden Schwierigkeiten seien jedoch bekannt: Der Leitfaden müsse vereinfacht und das Missverhältnis zwischen Antragsaufwand und Erfolgsquote verbessert werden. Dies insbesondere im Hinblick auf kleine Träger und Organisationen. Eine Erhöhung des Gesamtbudgets sei mit Blick auf die politische Durchsetzbarkeit die größte Herausforderung, da die Finanzminister der Mitgliedstaaten einen rigiden Blick auf den EU-Haushalt hätten.
Sibille Drews, stellvertretende Leiterin der Nationalen Agentur Bildung für Europa beimBundesinstitut für Berufsbildung (NABIBB), erklärte in Bezug auf die Umstellung des Programms auf Erasmus+: „Wichtig ist der Inhalt, nicht das Label“. Es müsse daher noch besser kommuniziert werden, dass auch außerhalb der Hochschulen Programme gefördert werden. Mit der Umstellung habe es zunächst viele Startschwierigkeiten gegeben. Erste Erhebungen würden aber inzwischen bestätigen, dass Akzeptanz und Zufriedenheit wachsen. Verbesserungen seien nötig in einer stärkeren Differenzierung zwischen großen und kleinen Projekten. Sie wünscht sich für die Zukunft des Programms mehr finanziellen Spielraum sowie Kontinuität in der nächsten Programmgeneration und keine erneuten größeren Umstrukturierungen.
Andrea Hoffmeier, Geschäftsführerin der Europäischen Föderation für Erwachsenenbildung (FEECA), betrachtete das Erasmus+-Programm als notwendiges Element für eine Stärkung des europäischen Gemeinschaftssinnes und eines europäischen Demokratiebewusstseins in Zeiten der Rückkehr nationalistischer Denkweisen: „Nicht nur Jugendlichen, sondern gerade auch älteren Menschen muss die „europäische Idee“ besser vermittelt werden. Das hat sich am Wahlverhalten beim Brexit-Referendum gezeigt“. Eine Vereinfachung der Antragstellung sei notwendig, so Andrea Hoffmeier. Gerade kleine Organisationen, die über wenig Personal verfügten, würden sich aufgrund des unerfreulichen Missverhältnisses zwischen Aufwand und Erfolg oft gegen eine Antragstellung entscheiden. Notwendig sei auch die stärkere Berücksichtigung der sektorspezifischen Bedürfnisse. Sektoren mit zugewiesenem Budget müssten erhalten bleiben. Darüber hinaus brauche es einen wirklichen Bürokratieabbau bei der Programmorganisation.
Katja Pichugova, Leiterin europäischer Projekte in der Evangelischen Schülerinnen- und Schülerarbeit von Westfalen, berichtete von ihren praktischen Erfahrungen. Die Projekte bewegten eine Menge bei jungen Menschen. Der Leitspruch der Europäischen Union „Vereint in Vielfalt“, werde hier Wirklichkeit. Die Jugendlichen entwickelten Interesse an anderen Ländern und Lebenssituationen. In ihrer Sprache hieße es dann ganz aktuell etwa: „Brexit - What the fuck?“. Hinsichtlich der Projektorganisation gebe es aus ihrer Sicht aber noch Verbesserungsbedarf: Die Unterbringungspauschalen mit Blick auf die Länder, in denen die Maßnahmen durchgeführt werden, seien wenig praxistauglich. Am allerwichtigsten sei ihr aber, dass das Programm von der Politik deutlich ernster genommen werden müsse. Judith Wind, Europabüro für katholische Jugendarbeit und Erwachsenenbildung
Text: Judith Wind-Schreiber, Leiterin des Europabüros für katholische Jugendarbeit und Erwachsenenbildung & Marie Schwinning, Arbeitsstelle für Jugendseelsorge
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